Zeit-gerechte Klimapolitik:
Vier Initiativen für Fairness
Nur wenn Klimapolitik gerecht gestaltet wird, kann sie auch erfolgreich sein. Voraussetzung dafür ist, dass die Dringlichkeit des Klimaschutzes ernst genommen wird und die Interessen der Betroffenen – als potenziell Geschädigte von Klimaänderungen sowie als Betroffene des notwendigen Strukturwandels für den Klimaschutz – gleichermaßen berücksichtigt werden.
Zusammenfassung
Die Begrenzung der globalen Erwärmung auf deutlich unter 2 °C erfordert eine rapide Dekarbonisierung der Weltwirtschaft. Scheitert dieses Vorhaben, setzen wir die Lebensgrundlagen künftiger Generationen aufs Spiel. Je länger die Transformation zur Klimaverträglichkeit verschleppt wird, desto gravierender werden die Risiken und Schäden für eine wachsende Zahl von Menschen ausfallen. Transformationsanforderungen und Klimaschäden sind zeitlich, räumlich und sozial ungleich verteilt, ebenso die jeweiligen Möglichkeiten ihnen zu begegnen. Daher schlägt der WBGU eine zeit–gerechte Transformation vor, die alle betroffenen Menschen in den Blick nimmt, ihre Handlungsfähigkeit stärkt, Verursacher des Klimawandels in die Pflicht nimmt und national wie global Zukunftsperspektiven schafft. Der WBGU schlägt der Bundesregierung die Förderung von vier essenziellen Initiativen einer zeit–gerechten Klimapolitik vor. Sie zielen auf (1) die vom Strukturwandel zur Klimaverträglichkeit betroffenen Menschen (z. B. in Kohleregionen), (2) die Rechtsansprüche der vom Klimawandel geschädigten Menschen, (3) die würdevolle Migration von Menschen, die ihre Heimat durch den Klimawandel verlieren sowie (4) die Schaffung von Finanzierungsinstrumenten für eine zeit–gerechte Transformation.

Dekarbonisierung frühzeitg, partizipativ und gerecht gestalten: Prüfstein Kohleausstieg
Dekarbonisierung erfordert einen schnellen und proaktiven Strukturwandel, der erhebliche Herausforderungen für Regionen und Sektoren mit sich bringt, die bisher von fossilen Energieträgern geprägt sind; im Zentrum stehen hier beispielhaft die Kohleregionen. Eine frühzeitige, transparente und partizipativ gestaltete Verständigung über potenzielle „Gewinner“ und „Verlierer“ des unumgänglichen Ausstiegs aus der Kohle sowie über zukunftsorientierte Gestaltungsmöglichkeiten alternativer regionaler Identitäten und Entwicklungsmodelle bietet die besten Antworten auf diese Herausforderungen und verhindert Verzögerungen und Verwerfungen. Als Initiative für eine zeit–gerechte Transformation empfiehlt der WBGU deshalb, eine „Zero Carbon Mission“ auf den Weg zu bringen. Damit soll regionaler Strukturwandel professionell begleitet und finanziell gefördert werden, um global verantwortliches Handeln zu ermöglichen, soziale Risiken betroffener Menschen zu reduzieren, sie untereinander zu vernetzen sowie ihre Zukunftsorientierung, Handlungsfähigkeit und Verwirklichungschancen zu stärken. Die konstruktive Sicht auf neue ökonomische Zukunftsperspektiven kann helfen, Verlustängste, Unsicherheit oder auch Pfadabhängigkeiten zu überwinden.

Rechtsschutz für Menschen, die durch den Klimawandel geschädigt werden
Unternehmen, die durch Emissionen den Klimawandel mitverursachen (z. B. Betreiber von Kohlekraftwerken), können gerichtlich Schadenersatzansprüche geltend machen, wenn sie vom Staat zum Abschalten ihrer Anlagen gezwungen werden. Dagegen sind die Rechtsansprüche der von massiven Klimaschäden betroffenen, oft armen Menschen gegenüber Großunternehmen, die für den Klimawandel mitverantwortlich sind, ungeklärt. Aus Sicht des WBGU steht diese Asymmetrie einer zeit–gerechten Transformation im Weg. Betroffene von existenzgefährdenden Klimaschäden sollten ebenfalls klagen können, auch um langfristig Mechanismen für einen gerechten Schadensausgleich zu etablieren. Herausforderungen sind dabei der gerichtsfest nachweisbare kausale Zusammenhang zwischen einzelnen Emissionen und Klimaschäden, das Prozesskostenrisiko und die Rechtzeitigkeit der Klagen. Der WBGU empfiehlt der Bundesregierung, im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit die Prozesskostenrisiken für einige aussichtsreiche Pionierklagen besonders vulnerabler Menschen und Gemeinden zu übernehmen, um diesen kurzfristig Rechtsschutz zu ermöglichen. Zudem sollte die Bundesregierung international darauf hinwirken, dass den durch erhebliche Klimaschäden bedrohten Menschen effektive Klagemöglichkeiten über Staatsgrenzen hinaus eröffnet werden.

In Nansens Fußstapfen: Ein Klimapass für menschenwürdige Migration
Der Klimawandel gilt bereits jetzt als Treiber für Migration und könnte bis Mitte des Jahrhunderts großskalige Migrationsbewegungen in dreistelliger Millionenzahl auslösen. Bisher besteht nur unzulänglich Schutz und Unterstützung für diese Menschen. Im Gegensatz zu einem zentralistisch oder autoritär gesteuerten Ansatz plädiert der WBGU für einen freiheitlich- humanistischen Umgang mit Migration, der die Würde des einzelnen Menschen achtet. Als internationales Instrument zeit–gerechter Klimapolitik schlägt der Beirat einen Klimapass für Migrant*innen vor. Er hat sein Vorbild im Nansen-Pass für Staatenlose, der nach dem Ersten Weltkrieg hunderttausenden Menschen Zuflucht ermöglichte. Zunächst sollte er Bewohner*innen besonders vom Klimawandel bedrohter flacher Inselstaaten Zugang und staatsbürgergleiche Rechte in sicheren Staaten gewähren. Zukünftig sollte er auch von Klimawandel massiv betroffenen Bürger*innen anderer Staaten und Binnenvertriebenen eine frühzeitige, freiwillige und würdevolle Migration ermöglichen. Staaten mit hohen Emissionen und damit großer Verantwortung für den Klimawandel sollten sich, dem Verursacherprinzip folgend, als Aufnahmeländer zur Verfügung stellen.

Durch Transformationsfonds zeit-gerechten Strukturwandel fördern
Um den notwendigen Strukturwandel zu einer dekarbonisierten Weltwirtschaft rechtzeitig und gerecht zu gestalten, sollten Nachhaltigkeitskriterien bei Finanzflüssen und Entscheidungen über Investitionen konsequent berücksichtigt sowie damit einhergehende Herausforderungen interdisziplinär erforscht werden. Der WBGU empfiehlt der Bundesregierung, aber auch Regierungen anderer Staaten, als einen wichtigen Schritt in diese Richtung Staatsfonds für zeit–gerechten Strukturwandel zur Klimaverträglichkeit einzurichten. Die Transformationsfonds sollten über Investitionen und Beteiligungen in Schlüsselindustrien die Umsetzung der Klima- und Nachhaltigkeitsziele beschleunigen und die erzielten Gewinne für die frühzeitige und partizipative Gestaltung zeit–gerechter Prozesse des Strukturwandels einsetzen. Das Volumen der Transformationsfonds sollte durch eine THG-Bepreisung aufgebaut werden, ergänzt durch Einnahmen aus einer reformierten Erbschaft- bzw. Nachlasssteuer. Die Transformationsfonds entfalten eine dreifache Steuerungswirkung, indem sich Mittelerhebung, Anlagestrategie und Verwendung der Renditen an den Erfordernissen einer zeit–gerechten Transformation orientieren. Zudem empfiehlt der WBGU, über eine Fazilität bei der Weltbank oder regionalen Entwicklungsbanken wirtschaftlich schwächere Länder beim Aufbau eigener Transformationsfonds und der Bewältigung von Strukturwandel zu unterstützen.