Presseerklärung26.06.1996, Bonn

Übergabe des Jahresgutachtens 1996: "Forschung für den Planeten Erde auf dem Prüfstand"

Der "Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen" (WBGU) übergibt heute sein Jahresgutachten an Bundesumweltministerin Dr. Angela Merkel und Bundesforschungsminister Dr. Jürgen Rüttgers.

Neue Prioritäten für die Forschungspolitik zum Globalen Wandel / Strategiezentrum zum Globalen Wandel schaffen / Private Finanzierungsmechanismen initiieren / Bundesregierung soll "Globalbericht" erstellen / 16 wichtigste "Krankheitsbilder" der Erde identifiziert / Alternatives Konzept für die Forschung zum Globalen Wandel

In seinem Bericht "Welt im Wandel: Herausforderung für die deutsche Wissenschaft" zeigt das Expertengremium auf, welche Wege die deutsche Forschung beschreiten muß, um ihren Beitrag zur Lösung der drängendsten Probleme der Erde zu verbessern. Aufgabe der Forschung zum Globalen Wandel ist die Erarbeitung der Handlungsgrundlagen für Politik und Gesellschaft. Da Deutschland überproportional zu globalen Umweltproblemen beiträgt, müssen aus dieser Verantwortung heraus auch seine Forschungsanstrengungen erheblich gesteigert werden.

Neue Prioritäten für die Forschungspolitik

Die Experten bemängeln in ihrem Bericht, daß die deutsche Forschung zum Globalen Wandel zu wenig international ausgerichtet, zu stark an Einzeldisziplinen orientiert und in der politikrelevanten Aufbereitung schwach entwickelt ist. Verschärft werden diese Defizite, weil ohne Prioritätensetzung Stellenkürzungen in weiten Bereichen der Forschung durchgeführt 2 werden, obwohl der Problemdruck ständig steigt. Der WBGU plädiert für weitgehend kostenneutrale Strukturveränderungen, indem bestehende Forschungskapazitäten besser genutzt und sinnvoll zusammengeführt werden sollen. Dazu müssen ein Teil der Forschung stärker an den aktuellen globalen Problemen ausgerichtet, die Prioritäten neu überdacht und die Forschungsaktivitäten besser international eingebunden werden. Um die Auswahl der wichtigsten Forschungsthemen zu erleichtern, hat der Beirat Relevanzkriterien entwickelt, die eine Reihung der Probleme des Globalen Wandels beispielsweise anhand ihrer Dringlichkeit, der deutschen (Mit-)Verantwortung bzw. Betroffenheit ermöglichen.

Im einzelnen ist nach Ansicht des WBGU die flächendeckende und langfristige Beobachtung ökologischer und gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen auf globaler Ebene dringend notwendig. Für die Beobachtung der natürlichen Umwelt ist dazu der Einsatz von großtechnischem Gerät (Schiffe, Satelliten etc.) und die Entwicklung von Global-Modellen unabdingbar. Innerhalb der Sozialwissenschaften sind Sozialmonitoring und kulturvergleichende Forschung notwendig, um Aufschlüsse über Handlungsmotive der betroffenen Bevölkerung zu gewinnen. Auch sollte die deutsche Hilfe beim Auf- und Ausbau von Forschungskapazitäten in Entwicklungsländern verstärkt werden.

Strategiezentrum zum Globalen Wandel schaffen

Zur Stärkung der Problemlösungskompetenz empfiehlt das Wissenschaftlergremium die Einrichtung eines Strategiezentrums zum Globalen Wandel. In einem solchen Zentrum sollen einerseits globale Umwelt- und Entwicklungsprobleme erforscht und für die Umsetzung in Politik und Gesellschaft aufbereitet werden. Andererseits sollen auch gesellschaftliche Impulse auf die Arbeit des Strategiezentrums rückwirken. Trotz knapper Ressourcen erscheint dem Beirat die Gründung eines solches Strategiezentrums als wichtig.

Neue private Finanzierungsmechanismen initiieren

Der WBGU regt ferner an, daß die deutsche Industrie im Rahmen einer umweltpolitischen Selbstverpflichtung eine Stiftung Globaler Wandel ins Leben ruft, um den Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zu fördern. Eine Möglichkeit zur Darstellung bietet die Weltausstellung in Hannover EXPO 2000.

Bundesregierung soll Globalbericht vorlegen

Zukünftig sollte nach Ansicht des WBGU pro Legislaturperiode ein Globalbericht erstellt werden, der aufzeigt, welche politischen Initiativen zur Lösung globaler Umwelt- und Entwicklungsprobleme von der Bundesregierung ergriffen werden. Der Bericht soll außerdem Auskunft über Ergebnisse und Entwicklung in der Erforschung von Problemlösungen geben, zu denen seit dem Umweltgipfel in Rio de Janeiro 1992 zahlreiche Aktivitäten auf nationaler und internationaler Ebene angelaufen sind.

16 wichtigste "Krankheitsbilder" der Erde identifiziert

Die Menschheit hat zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen Punkt erreicht, an dem Entwicklungs- und Umweltprobleme zu einer ernsthaften globalen Überlebenskrise geführt haben, auf die die Wissenschaft bislang keine oder nur unzureichende Antworten hat. Die bestehenden einzelwissenschaftlichen Analysen erweisen sich aufgrund der Komplexität und Vernetztheit der Probleme als unbefriedigend. Die eigentliche Herausforderung an die For- 3 schung ist daher, einen Ansatz zu erarbeiten, der dieser Problemstruktur gerecht wird. Dazu hat der WBGU einen interdisziplinären Syndromansatz entwickelt, mit dem die "Erkrankungen" des Planeten Erde systematisch beschrieben, erklärt und zukünftige Lösungsansätze abgeleitet werden können. Insgesamt 16 Syndrome oder Krankheitsbilder der Erde wurden identifiziert, die den Globalen Wandel in seiner Gesamtheit beschreiben:

  • Syndromgruppe Nutzung: Syndrome als Folge einer unangepaßten Nutzung von Naturressourcen als Produktionsfaktoren.
    • Landwirtschaftliche Übernutzung marginaler Standorte: Sahel-Syndrom
    • Raubbau an natürlichen Ökosystemen: Raubbau-Syndrom
    • Umweltdegradation durch Preisgabe traditioneller Anbaumethoden: LandfluchtSyndrom
    • Nicht-nachhaltige industrielle Bewirtschaftung von Böden und Gewässern: Dust Bowl-Syndrom
    • Umweltdegradation infolge Abbau nicht-erneuerbarer Ressourcen: Katanga-Syndrom
    • Erschließung und Schädigung von Naturräumen für Erholzwecke: Massentourismus-Syndrom
    • Umweltzerstörung durch militärische Nutzung: Verbrannte Erde-Syndrom
  • Syndromgruppe Entwicklung: Mensch-Umwelt-Probleme, die sich aus mit nichtnachhaltigen Entwicklungsprozessen ergeben.
    • Umweltschädigung durch zielgerichtete Naturraumgestaltung im Rahmen von Großprojekten: Aralsee-Syndrom
    • Umweltdegradation durch Verbreitung standortfremder landwirtschaftlicher Produktionsverfahren: Grüne Revolution-Syndrom
    • Vernachlässigung ökologischer Standards im Zuge hochdynamischen Wirtschaftswachstums: Kleine Tiger-Syndrom
    • Umweltdegradation durch ungeregelte Urbanisierung: Favela-Syndrom
    • Landschaftsschädigung durch geplante Expansion von Stadt- und Infrastrukturen: Suburbia-Syndrom
    • Singuläre anthropoge Umweltkatastrophen mit längerfristigen Auswirkungen: Havarie-Syndrom
  • Syndromgruppe Senken: Umweltdegradation durch unangepaßte zivilisatorische Entsorgungsanforderungen.
    • Umweltdegradation durch weiträumige diffuse Verteilung von meist langlebigen Wirkstoffen: Hoher-Schornstein-Syndrom
    • Umweltverbrauch durch geregelte und ungeregelte Deponierung zivilisatorischer Abfälle: Müllkippen-Syndrom
    • Lokale Kontamination von Umweltschutzgütern an vorwiegend industriellen Produktionsstandorten: Altlasten-Syndrom

Syndromansatz als alternatives Konzept für die Forschung zum Globalen Wandel

Nach Ansicht des WBGU sollte sich die Forschung zum Globalen Wandel zukünftig in starkem Maße an diesem Konzept orientieren. Institutionen aus Forschung und Anwendung sind jetzt aufgerufen, das Syndrom-Konzept aufzugreifen und kritisch zu seiner Weiterentwicklung beizutragen.

4 Bereits jetzt sollten nach Ansicht des WBGU drei Syndrome von der deutschen Forschung mit Prioriät behandelt werden: Das Hoher-Schornstein-Syndrom, das Sahel-Syndrom und das Suburbia-Syndrom. Mit dem Hoher-Schornstein-Syndrom wird die Fernwirkung von Stoffen beschrieben, nachdem sie in die Umwelt freigesetzt wurden, wie beispielsweise die globale Verteilung von Kohlendioxid oder Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW). Das Sahel-Syndrom umfaßt die landwirtschaftliche Übernutzung marginaler Regionen, wie sie sich in der Sahel-Region selbst, aber auch in vielen anderen Gebieten, wie beispielsweise dem Norden Thailands finden läßt. Das Suburbia-Syndrom tritt überall dort auf, wo Großstädte in die Fläche wachsen, wie z.B. Los Angeles, New York oder in deutschen Ballungsgebieten.

Globaler Wandel beeinflußt Lebensgrundlagen der Menschheit

Unter Globalem Wandel verstehen die Wissenschaftler Umweltveränderungen, die den Charakter des Systems Erde zum Teil unabänderlich modifizieren und deshalb die Lebensgrundlagen für einen Großteil der Menschheit spürbar beeinflussen. Zu den herausragenden Problemen des Globalen Wandels zählen nach Ansicht des WBGU die Veränderung des Klimas, der Verlust fruchtbarer Böden, die Abnahme der biologischen Vielfalt, die Verknappung des Süßwassers, die Übernutzung der Weltmeere, die Zunahme von (menschlich verursachten) Naturkatastrophen, das Bevölkerungswachstum, zunehmende Migration (Umweltflüchtlinge), die dramatische Verstädterungsdynamik, die Gefährdung der Welternährung und der menschlichen Gesundheit sowie das zunehmende Wohlstandsgefälle zwischen Industrie- und Entwicklungsländern.