Übergabe des Gutachtens 2004 an die Bundesregierung: "Globale Armutsbekämpfung setzt wirksame Umweltpolitik voraus"
Die Wissenschaftler betonen in ihrem Gutachten, dass erfolgreiche Armutsbekämpfung eine wirksame Umweltpolitik voraussetzt. Die Entwicklungschancen der armen Länder verbessern sich nur, wenn angesichts voranschreitender Umweltveränderungen sowohl Anpassungsmaßnahmen verstärkt als auch weitere Eingriffe in die natürliche Umwelt vermieden werden. Die Industrieländer müssen ihrerseits zur Überwindung dieser Krise beitragen. Umweltschutz und Armutsbekämpfung sollten aus Sicht des WBGU stärker vernetzt und national wie international als Querschnittsthema besser verankert werden. Eine solche Politik würde sich für alle Länder auszahlen.
Die Eingriffe des Menschen in die natürliche Umwelt gefährden bereits heute in weiten Teilen der Erde die Lebensbedingungen der Armen. Ohne Gegensteuerung werden Umweltveränderungen künftig in noch größerem Umfang Existenz bedrohende Auswirkungen haben. Absolute Armut bedeutet neben mangelndem Einkommen meist auch ein erhöhtes Hunger- und Erkrankungsrisiko sowie fehlende Bildung. Noch immer leben 1,1 Mrd. Menschen von weniger als einem Dollar am Tag, ebenso viele haben keinen sicheren Zugang zu Trinkwasser und rund 840 Mio. Menschen sind unterernährt. Allein durch verschmutzte Luft in Innenräumen sterben jährlich etwa 1,6 Mio. Menschen.
Globale Partnerschaft mit Leben füllen
Mehr denn je ist eine verantwortungsvolle Zusammenarbeit von Industrie- und Entwicklungsländern notwendig, um die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und Armut zu bekämpfen. Dies verlangt aus Sicht des WBGU, dass die Industrieländer ihre eigenen Konsum- und Produktionsmuster nachhaltig gestalten und zukunftsfähige Modernisierungsprozesse in Entwicklungsländern unterstützen. Die bisherige Lücke zwischen den Ankündigungen der reichen Länder und ihrer tatsächlichen Politik unterhöhlt das Vertrauen der Entwicklungsländer. Gleichzeitig stehen die Regierungen der Entwicklungsländer in der Pflicht, gute Regierungsführung zu praktizieren, die Rechte der Armen zu stärken und die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit Ernst zu nehmen.
UN-Reform: Entwicklungs- und Umweltproblemen so hohen Stellenwert wie Sicherheitsfragen geben
Der schwerfällige "Tanker" UN muss seine politische Steuerungsfähigkeit verbessern und zum Rückgrat einer globalen Umwelt- und Entwicklungspartnerschaft werden. Nur so kann der viel beklagte Mangel an abgestimmter Politik (Kohärenz) verringert und die Durchsetzungsfähigkeit von Nachhaltigkeitszielen in der Staatengemeinschaft gestärkt werden. Als langfristige Vision empfiehlt der WBGU einen „Rat für Globale Entwicklung und Umwelt“ als übergeordnetes Gremium im UN-System einzurichten. Er soll die Institutionen im Entwicklungs- und Umweltbereich, einschließlich der internationalen Finanzorganisationen wie Weltbank und IWF, koordinieren und auf das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung ausrichten. Der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) soll in dem neuen Gremium aufgehen. Für die Einrichtung eines solchen neuen Rates wäre eine Änderung der UN-Charta nötig. Dieses Reformprojekt ist daher nur langfristig zu realisieren. Ein weiterer wichtiger Reformschritt ist die rasche Aufwertung des UNUmweltprogramms (UNEP) zu einer UN-Sonderorganisation.
Umsetzung vor Ort vorantreiben
Der WBGU betont, dass die Umsetzung internationaler Vereinbarungen nur gelingen kann, wenn die nationalen und lokalen Akteure als die eigentlichen Kräfte dieses Prozesses begriffen werden. Der Schritt von der Verabschiedung globaler Aktionsprogramme zu deren konkreter Umsetzung vor Ort bleibt meist unbefriedigend. Daher sollten quantitative Ziele für internationale Abkommen vereinbart, Indikatoren zur Überprüfung der Maßnahmen erarbeitet sowie die Koordination der Geber verbessert werden.
Finanzierung sichern
International vereinbarte Ziele für Armutsbekämpfung und Umweltschutz sind finanzierbar. Der hierfür erforderliche zusätzliche jährliche Mittelbedarf bewegt sich nach Schätzung des WBGU im niedrigen dreistelligen Milliardenbereich. Das entspricht der Größenordnung nach den jährlichen Ausgaben der OECD-Länder für Agrarsubventionen, die sich auf rund 350 Mrd. US-Dollar belaufen. Die Kosten zum Schutz des Klimas und der Biodiversität liegen ebenfalls im niedrigen dreistelligen Milliardenbereich. Hinzu kommen Kosten für Anpassung an und Kompensation von Klimaschäden. Für die Gewinnung zusätzlicher Finanzmittel bieten sich mehrere Möglichkeiten an. So können Gelder etwa durch Umlenkung bestehender Ausgaben gewonnen werden, wie die Abschaffung umweltschädlicher Subventionen. Auch der Abbau von Handelshemmnissen, die den Zugang der armen Länder zu den Märkten der Industrienationen verhindern, würde einen wesentlich höheren Mittelfluss in die Entwicklungsländer bewirken. Zudem ist eine Erhöhung der öffentlichen Entwicklungsleistungen erforderlich, vor allem für die am wenigsten entwickelten Länder. Schließlich können Finanzmittel durch öffentlich-private Partnerschaften, also Allianzen zwischen öffentlicher Entwicklungszusammenarbeit, Zivilgesellschaft und der Privatwirtschaft, gewonnen werden. Weitere Instrumente sind die Erhebung von Entgelten für die Nutzung globaler Gemeinschaftsgüter wie den internationalen Luftraum oder die Meere. So könnte beispielsweise ein am Verbrauch von Flugbenzin orientiertes Entgelt bei EU-weiter Einführung ein Aufkommen von bis zu 21 Mrd. € pro Jahr erbringen.
Bevorstehende politische Gipfel für Weichenstellungen nutzen
Der kommende G8-Gipfel im Juli 2005 wird sich mit Armutsbekämpfung und Klimaschutz befassen. Der WBGU begrüßt in diesem Zusammenhang die Ankündigung der britischen Regierung, den Entwicklungsländern weitere Schulden zu erlassen. Die Bundesregierung sollte sich diesem Vorstoß anschließen, weil die hohe Auslandsverschuldung einer nachhaltigen Entwicklung in armen Ländern im Wege steht. Die mit Auflagen verbundene Entschuldungsinitiative (HIPC) sollte reformiert und auf hochverschuldete Länder mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen ausgedehnt werden. Eine weitere Gelegenheit zur Weiterentwicklung der internationalen Umwelt- und Armutsbekämpfungspolitik bietet die von den Vereinten Nationen für September 2005 anberaumte hochrangige Konferenz, auf der die Erfüllung der im Jahr 2000 von 150 Staatsund Regierungschefs vereinbarten Beschlüsse der Millenniumserklärung sowie der zurückliegenden Weltkonferenzen auf der Tagesordnung stehen.
Hintergrund: Systemanalyse als Grundlage
Die Handlungsempfehlungen dieses Gutachtens basieren auf einer umfassenden Analyse des systemischen Zusammenhangs von Armutsdimensionen (Einkommensarmut, Krankheit, Unterernährung, Mangel an Bildung sowie gesellschaftlicher Stabilität und an Sozialkapital) mit Umweltveränderungen (Klimawandel, Wassermangel und -verschmutzung, Bodendegradation, Verlust biologischer Vielfalt und Luftverschmutzung). Armut und Umweltprobleme werden in ihren verschiedenen Ausprägungen und Wechselwirkungen untersucht und Wege zu ihrer Bewältigung abgeleitet.
Bei der Entwicklung von Handlungsstrategien wird das Prinzip der kohärenten Verschränkung von Armuts- und Umweltpolitik verfolgt. So darf sich etwa Klimapolitik in der Entwicklungszusammenarbeit nicht auf Anpassungsmaßnahmen beschränken, sondern sollte auch die Emissionsvermeidung einschließen. Gleichzeitig sollte Technologietransfer zum Klimaschutz die Interessen der Armen stärker berücksichtigen. Nur dann ergibt sich eine positive Rückkopplung.