„Unsere gemeinsame digitale Zukunft“ – Entwurf einer Charta für ein nachhaltiges digitales Zeitalter

 

Zur Notwendigkeit einer Charta

Der institutionelle Rahmen für globale nachhaltige Entwicklung im Digitalen Zeitalter braucht einen normativen Bezugspunkt. Der WBGU legt hier den Entwurf einer Charta für ein nachhaltiges Digitales Zeitalter vor, der an die Agenda 2030 und die Erklärung der Menschenrechte anknüpft und zugleich über sie hinausgeht. Die Charta soll als Prinzipien-, Ziel- und Normensystem für die internationale Staatengemeinschaft dienen und digitalen Wandel mit der nötigen globalen Nachhaltigkeitsperspektive verknüpfen. Sie formuliert Ziele und Grundsätze zum Schutz der Menschenwürde, der natürlichen Lebensgrundlagen, der Teilhabe und des Zugangs zu digitalen und digitalisierten Infrastrukturen und Technologien sowie der individuellen und kollektiven Entfaltungsfreiheit im Digitalen Zeitalter. Auf dieser Basis konkretisiert die Charta Handlungsleitlinien, die von der Weltgemeinschaft mit Blick auf die Herausforderungen des Digitalen Zeitalters aufgestellt werden sollten.

Die Charta enthält drei Kernelemente: So sollen erstens Digitalisierung im Sinne der Agenda 2030 gestaltet und digitale Technik zur Erreichung der SDGs genutzt werden. Zweitens sollten über die Agenda 2030 hinaus Systemrisiken vermieden werden, indem insbesondere Bürger- und Menschenrechte geschützt, das Gemeinwohl gefördert und Entscheidungssouveränität gewährleistet werden. Drittens müssen sich Gesellschaften prozedural auf zukünftige Herausforderungen vorbereiten, indem sie u. a. ethische Leitlinien vereinbaren sowie zukunftsorientierte Forschung und Bildung sicherstellen.

 

Präambel

Im Bewusstsein der Verantwortung aller Gesellschaften für unsere gemeinsame digitale Zukunft,

     im Bewusstsein der Dringlichkeit für entschiedenes Handeln zur Begrenzung des anthropogenen Klimawandels und zur Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen sowie im Bewusstsein der Verantwortung des Menschen im Anthropozän als neue erdgeschichtliche Epoche,

     im Bestreben, auf eine humanistische Vision für eine vernetzte Weltgesellschaft des Digitalen Zeitalters hinzuwirken, in der sich zivilisatorische und menschliche Potenziale voll entfalten,

     in Anerkennung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, des Berichts der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung, des Basler Übereinkommens über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung, des durch die Vereinten Nationen gesponserten Weltgipfels zur Informationsgesellschaft, der Agenda 2030 der Vereinten Nationen mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung, des Übereinkommens von Paris sowie entsprechender Prozesse informeller Initiativen,

     erkennen die Unterzeichnenden die folgenden Ziele, Grundsätze, Freiheiten, Rechte und Pflichten an und bekennen sich zu ihrer Umsetzung.

Ziele und Grundsätze

1. Die Würde des Menschen ist auch im digitalen Raum unantastbar. Alle Menschen haben das Recht auf digitale Identität, Souveränität, Datenschutz und Privatsphäre. Dazu gehören auch das Recht, sich der Digitalisierung im Privaten zu entziehen, sowie das Recht, informiert zu werden, wenn ein Interaktionspartner kein Mensch, sondern ein technisches System ist.

2. Die Entwicklung digitaler Technologien und digitalisierter Infrastrukturen wird stets so ausgerichtet, dass die natürlichen Lebensgrundlagen bewahrt bleiben. Die planetarischen Leitplanken müssen bei Herstellung und Betrieb eingehalten, globale und lokale Umweltprobleme müssen vermieden werden. Verursacher-, Kooperations-, Integrations- und Vorsorgeprinzip sind als Leitprinzipien zu beachten.

3. Die Entwicklung digitalisierter Infrastrukturen wird stets so ausgerichtet, dass sie allen Menschen zugänglich ist und die gleichen Chancen eröffnet, sich gesellschaftlich einzubringen und zu verwirklichen. Für die zugrundeliegenden Technologien wie Mikroelektronik, Tele- und Datenkommunikationsnetze, Datenverarbeitung und künstliche Intelligenz sollen Informationen über die prinzipielle Funktionsweise weltweit für alle zugänglich sein.

4. Die Rechte des Einzelnen zum Schutz der individuellen Entfaltungsfreiheit im digitalen Raum werden gewährleistet. Dazu gehören das allgemeine Persönlichkeitsrecht, insbesondere die informationelle Selbstbestimmung, der Schutz der Meinungsfreiheit und der digitalen Identität sowie der Schutz von Minderheiten und vor Diskriminierung. Alle Menschen haben grundsätzlich das Recht, die über sie gespeicherten Daten einzusehen, zu korrigieren, über ihre Nutzung zu bestimmen und sie löschen zu lassen. Diese Rechte sind einklagbar.

Digitalisierung im Sinne der Nachhaltigkeitsziele

5. Die Potenziale der Digitalisierung sollen weltweit für die Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030 und darüber hinaus) genutzt werden. In gesellschaftlichen Entscheidungen, die die Ziele für nachhaltige Entwicklung betreffen, sollen Lösungen auf Basis digitaler Technik erwogen werden.

6. Bei der Entwicklung digitaler Technologien und digitalisierter Infrastrukturen werden stets die ökologischen und sozialen Auswirkungen berücksichtigt. Die planetarischen Leitplanken müssen eingehalten werden.

7. Die Digitalisierung wird gezielt für das Monitoring der UN-Nachhaltigkeitsziele und so die Absicherung von sozialen und ökologischen Standards eingesetzt.

8. Alle Staaten tragen zur Entwicklung digitaler Gemeingüter zum Kultur- und Naturerbe und zum weltweiten Wissensstand bei und gewährleisten deren Absicherung und allgemeine Zugänglichkeit über Generationengrenzen hinweg.

Systemrisiken vermeiden

9. Alle Staaten und Unternehmen wirken aktiv auf die Minimierung von Risiken für kritische Infrastrukturen hin. Sie sind verpflichtet, sich gegenseitig über Fehler und Sicherheitslücken zu informieren und für deren Behebung zu sorgen. Die Verantwortlichkeit für Schadensfälle wird stets klar definiert.

10. Der Einsatz digitaler Technologie verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Digitale Lösungen dürfen nicht dazu benutzt werden, Menschen zu unterdrücken, anlasslos zu überwachen oder soziale Kontrolle auszuüben.

11. Alle Staaten haben die Pflicht, Betroffene bei der Anpassung an die durch die Digitalisierung hervorgerufenen arbeitsweltlichen Umwälzungen im Sinne der oben definierten Grundsätze in angemessener Weise zu unterstützen.

12. Die Entscheidungssouveränität des Menschen beim Einsatz künstlicher Intelligenz und algorithmenbasierter Automatismen in gesellschaftlichen Entscheidungsfindungsprozessen wird gewährleistet. Der Mensch behält das Letztentscheidungsrecht. Automatisierte Entscheidungsfindung und -unterstützung erfolgt stets nachvollziehbar, nur in klar definiertem Rahmen und unter Wahrung einer Korrekturmöglichkeit. Die Verantwortlichkeit für automatisierte Entscheidungsfindung und -unterstützung wird stets klar definiert.

13. Alle Staaten haben die Pflicht, das Recht desEinzelnen auf Eigenart und körperliche Unversehrtheit, insbesondere psychische Integrität, zu bewahren. Gesellschaftlichem Druck zur Optimierung des menschlichen Körpers durch Technik muss entgegengewirkt werden. Alle Staaten vereinbaren auf multilateraler Ebene hierzu verbindliche Regeln und ethische Leitlinien.

14. Cyber-Angriffe unterliegen den Genfer Konventionen zu kriegerischen Auseinandersetzungen und ihren Zusatzprotokollen, die um Angriffe auf kritische Infrastrukturen zu ergänzen sind. Der Einsatz vollautomatisierter autonomer Waffensysteme muss verboten werden. Der Schutz der Zivilbevölkerung hat höchste Priorität.

Auf prozedurale Herausforderungen vorbereiten

15. Alle Staaten und Unternehmen entwickeln kohärente und verbindliche ethische Leitlinien für die Konzeption, Entwicklung und Anwendung von digitalen Technologien und Lösungen im Hinblick auf die Menschenwürde und die Nachhaltigkeitsziele und schaffen die notwendigen rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen für deren Umsetzung. Die schließt insbesondere eine konsequente Förderung quelloffener und interoperabler Hard- und Software für gemeinwohldienliche Zwecke ein.

16. Alle Staaten schaffen Institutionen, die über den Einsatz von digitalen Technologien beraten, wenn sie die Menschenwürde, die natürlichen Lebensgrundlagen, die Teilhabe aller Menschen oder die Eigenart des Einzelnen unmittelbar betreffen. Alle Staaten schaffen die Voraussetzungen, dass sich die Zivilgesellschaft frühzeitig an diesen Prozessen beteiligen kann.

17. Alle Staaten befähigen ihre Bürger*innen durch technologieorientierte Zukunftsbildung dazu, an ethisch geleiteter Entwicklung bzw. mündiger Nutzung digitaler Technik teilzuhaben, ein globales Verantwortungsbewusstsein mit holistischem Verständnis ihrer Handlungsoptionen im Digitalen Zeitalter zu entwickeln und zukünftige Entwicklungen digitaler Technologien und digitalisierter Infrastrukturen aktiv mitzugestalten. Dies bezieht insbesondere die Bildung für nachhaltige Entwicklung ein.

18. Alle Staaten kooperieren auf multilateraler Ebene im Sinne der in dieser Charta vereinbarten Ziele und Verpflichtungen.

 

Überarbeitete Version vom 14. August 2020

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