Politikpapier

Über Klimaneutralität hinausdenken

Die Klimakrise und die durch die Covid-19-Pandemie bedingten Krisen müssen gemeinsam bewältigt werden. Viele Staaten arbeiten an Strategien zur Umsetzung des Pariser Übereinkommens. Auf der Klimakonferenz in Glasgow gilt es daher, kurz- und  langfristige Ziele und Maßnahmen in Einklang zu bringen.


Übersicht

Das Bundesverfassungsgericht hat den deutschen Gesetzgeber verpflichtet, Klimaschutz langfristig zu planen. Die Erstellung von Langfriststrategien sollte auch international verpflichtend werden, über Klimaneutralität hinaus auf Klimastabilisierung abzielen und Mehrgewinne mit anderen Nachhaltigkeitsdimensionen anstreben. Dazu sollten sie erstens den schnellen und vollständigen Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energieträger vorsehen. Zweitens sollten Schutz und Wiederherstellung von Ökosystemen sowie ihre nachhaltige Nutzung zum Schwerpunkt werden. Drittens sollte die Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre strategisch vorbereitet werden. Als starken Impuls sollten sich Staaten auf der COP 26 dazu bekennen, ihre Covid-19-Stimulusprogramme im Sinne der Langfriststrategien zu nutzen.

Im Übereinkommen von Paris haben sich die Staaten nicht nur auf das langfristige Ziel einer Klimastabilisierung geeinigt, sondern auch darauf, ihre Finanzströme mit Klimaschutz und Anpassung in Einklang zu bringen. Zu beiden Aspekten sollten auf der COP 26 in Glasgow spezifische Beschlüsse gefasst werden: Staaten sollten Langfriststrategien nutzen, um kurz- und langfristige Ziele und Maßnahmen auf Klimastabilisierung auszurichten, sowie die Covid-19-Stimulusprogramme für eine Transformation der Wirtschaft in Richtung Klimaschutz einsetzen.

Klimastabilisierung als Langfristziel internationaler Klimapolitik

Klimastabilisierung ist die dauerhafte Begrenzung der globalen Erwärmung möglichst auf 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau, um eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems zu vermeiden. Dies erfordert mehr als „Klimaneutralität“, die derzeit von vielen Staaten als Ziel formuliert wird, aber unabhängig von ihrer exakten Definition nur ein Zwischenziel sein kann. Erstens müssen anthropogene CO2-Emissionen sehr schnell gestoppt, Nicht-CO2-Emissionen stark reduziert und gleichzeitig die Biosphäre gestärkt werden. Zweitens muss über Klimaneutralität hinaus voraussichtlich CO2 aus der Atmosphäre entfernt werden, um hohe frühere Emissionen und verbleibende Erwärmungstrends auszugleichen. Dies sollte antizipiert werden, so dass technologische Entwicklungspfade diese Option  ermöglichen.

Verbindliche Langfriststrategien zu einem Hauptthema der COP 26 machen

Langfriststrategien im Rahmen des Pariser Übereinkommens können Grundlage für eine internationale Diskussion über Transformationspfade werden. Sie sollten verpflichtend erstellt und regelmäßig überprüft werden. Die Staaten sollten sich dazu bekennen, ihre Langfriststrategien auf Klimastabilisierung auszurichten und ihre Covid-19-Stimulusprogramme in diesem Sinne zu nutzen. Für kohärente, effektive und faire Langfriststrategien sowie ihre Mess- und Vergleichbarkeit sollten Mindestanforderungen defi­niert werden.

Langfriststrategien stecken den Rahmen für die Weiterentwicklung kurzfristiger nationaler Beiträge (NDCs). Sie sollten die Nachhaltigkeitsagenda mitdenken und Mehrgewinne erzeugen. Auch lassen sich die Klimaschutzziele leichter erreichen, wenn die Welt insgesamt auf einem nachhaltigeren Entwicklungspfad ist.

Jede Langfriststrategie sollte primär nationale Klimaschutzpotenziale ausschöpfen. Internationale Auswirkungen sollten beachtet und Entwicklungsländer, insbesondere Niedrigeinkommensländer partnerschaftlich unterstützt werden (z. B. bei Auf- und Ausbau von Wertschöpfung, sozialer Absicherung und Umweltmonitoring). Nationale Ausgaben für nachhaltigkeitsorientierte, transformative Forschung, Entwicklung und Bildung sollten auch in Niedrigeinkommens- und Schwellenländern deutlich angehoben werden, nicht zuletzt um eine breite Wissensbasis für einen gemeinsamen Diskurs zu schaffen. Langfriststrategien sollten Richtschnur für verlässliche regulatorische Rahmenbedingungen und Finanzierungsmechanismen sein. Öffentliche und private Finanzierungsbeiträge sollten klar unterschieden, die anvisierte Rolle internationaler Finanzierungsmechanismen und Kooperationen transparent gemacht und öffentliche Mittel längerfristig zugesagt werden.

Schwerpunkte für Langfriststrategien setzen: stoppen, stärken, vordenken

Langfriststrategien sollten drei inhaltliche Schwerpunkte zum Klimaschutz setzen, die nicht untereinander substituierbar sind:

  1. CO2-Emissionen aus fossilen Quellen stoppen: Der WBGU empfiehlt, schnell und vollständig aus der Verbrennung fossiler Energieträger auszusteigen und ihre stoffliche Nutzung auf Fälle zu begrenzen, in denen keine nachhaltigen Alternativen entwickelt werden können. Die Beendigung der Extraktion, Exploration und Verarbeitung fossiler Ressourcen senkt zusätzlich CH4-Emissionen, hat erhebliche Mehrgewinne für Gesundheit und Biodiversität und sollte multilateral verhandelt werden. Maßnahmen, die den Ausstieg unterstützen (z.B. CO2-Preise, Subventionsabbau und Infrastrukturmaßnahmen) sollten umrissen und zukünftige Energiebedarfe abgeschätzt werden. Der Zeitpunkt, an dem kein CO2 aus fossilen Quellen mehr freigesetzt wird sowie die Zwischenziele sollten sich an einem angemessenen Anteil am globalen Restemissionsbudget orientieren.
  2. Beitrag der Biosphäre stärken: Schutz und Wiederherstellung sowie nachhaltige Nutzung von Ökosystemen an Land und im Ozean sollten Bio-diversitätserhaltung und Klimaschutz verknüpfen. Die Senkenwirkung von Ökosystemen ist bereits gemindert und die Erhaltung der Biodiversität gefährdet; beides kann nur bei ambitionierten Emissionsreduktionen langfristig gesichert werden. Die Diversifizierung von Landwirtschaftssystemen (mit niedrigeren CH4- und N2O-Emissionen), die Transformation tierproduktlastiger Ernährungsstile und eine verantwortungsvolle Bioökonomie tragen zu beiden Zielen bei. Finanzielle Anreize, Steuern und Berichtspflichten für Unternehmen sollten auf die Stärkung von Ökosystemleistungen ausgerichtet und ökologische Fernwirkungen besser erforscht und adressiert werden.
  3. CO2-Entfernung aus der Atmosphäre vordenken: Um auch bei unzureichender CO2-Emissionsminderung die Chancen auf Klimastabilisierung zu bewahren, sollten Optionen (z. B. BECCS, DACCS, Biokohle) zur dauerhaften CO2­-Entfernung offengehalten werden. Technologien, bei denen aufwändig aus der Atmosphäre entzogenes CO2 zeitnah wieder freigesetzt wird (z. B. synthetische  Kraftstoffe), konkurrieren mit der langfristigen CO2-Speicherung, und sollten daher nur bei Fehlen nachhaltiger Alternativen verfolgt werden. Zudem sollte negativen Auswirkungen auf andere Nachhaltigkeitsziele vorgebeugt werden, z.B. durch einen hohen Biomasse- oder Flächenbedarf. Ein Portfolioansatz könnte skalierungsbedingte Nachhaltigkeitsprobleme einzelner Technologien zur CO2-Entfernung mindern. Anreize zur Nutzung technischer Optionen sollten erst gesetzt werden, wenn ein Governance-Rahmen Nachhaltigkeit gewährleistet. Auf die künftige Rückholung des emittierten CO2 mit noch wenig erforschten Technologien zu vertrauen, ist allerdings hoch riskant.

Alle drei Schwerpunkte sind notwendig, wobei der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern und die Stärkung der Biosphäre grundlegend sind. Sie sollten jeweils mit eigenen Zielen, Zwischenzielen und Maßnahmen versehen sowie mit Indikatoren verfolgt werden, ohne fossile Emissionsminderung, Ökosystemleistungen und CO2-Entfernung miteinander zu verrechnen. Gleichzeitig sind Wechselwirkungen zwischen den Lösungsansätzen zu beachten, um eine umfassende Transformation zu ermöglichen. Auswirkungen geplanter Technologie- und Transformationspfade auf alle Dimensionen der Agenda 2030 sollten abgeschätzt werden.

Recover Forward: Covid-19-Stimuli für Klimastabilisierung nutzen

Als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie wurden bis März 2021 weltweit 16.000 Mrd. US-$ mobilisiert, die sowohl Chance als auch Risiko für langfristige Klimastabilisierung sind. Rund 30% der Stimulusprogramme betreffen ökologisch sensible Bereiche, berücksichtigen Nachhaltigkeitsbelange aber nicht ausreichend (z.B. wird in 15 der G20-Länder ein negativer Gesamteffekt auf die Umwelt erwartet). Darüber hinaus sind v.a. Menschen in Südasien und Subsahara-Afrika durch die Covid-19-Krise zusätzlich von extremer Armut bedroht, aber die Stimulusausgaben pro Kopf sind in Hocheinkommensländern ca. 580 mal höher als in den „least developed countries“. Die unterschiedliche Leistungsfähigkeit nationaler Ökonomien droht sich so weiter zu verfestigen und die gemeinsame Bewältigung globaler Herausforderungen wie Klimawandel, Biodiversitätskrise oder Pandemien zu erschweren. Die Covid-19-Stimulusprogramme und klimapolitische Rahmensetzungen sollten – wie alle staatlichen Unterstützungen und Investitionen – stärker an den Langfriststrategien ausgerichtet und für einen ökologisch und sozial verträglichen, global ausgewogenen Umbau von Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen eingesetzt werden.

Langfriststrategien für Klimastabilisierung Für Staaten sollte es verbindlich werden, Langfriststrategien zu erstellen. Sie sollten diese über nationale Klimaneutralität hinaus auf globale Klimastabilisierung ausrichten. Damit verträgliche globale Emissionspfade (IPCC, 2018) sind in blau angedeutet. Dazu sollten auch Covid-19-Stimulusprogramme einen Beitrag leisten („Recover Forward“). Die Langfriststrategien sollten Mehrgewinne im Sinne der Nachhaltigkeitsagenda anstreben, international eingebettet sein sowie verl ssliche regulatorische Rahmenbedingungen und Finanzierungsmechanismen vorsehen. Inhaltliche Schwerpunkte sollten den Ausstieg aus der Nutzung fossiler Rohstoffe, die Stärkung der Biosphäre sowie die strategische Vorbereitung dauerhafter CO2-Entfernung aus der Atmosphäre umfassen. Quelle: WBGU; Grafik: Wernerwerke, Berlin

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